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Elisabeth Grossmann ©
Text zu Urs Graf: Facetten 13 2011
Die Bücher
Was dem Schriftsteller sein Tagebuch, ist dem Künstler sein Studienbuch – Spurensuche, Gedankensplitter, Fundus, Gedächtnis, 'Zeiteinfänger'. Noch strebt der Autor nicht nach Vollendung, noch darf Alles in der Schwebe bleiben, der Macht von Kontrolle und Zensur im gedanklichen „Vorerst“ entzogen. Neben- und Hauptsächliches, Oberflächliches und Tiefgründiges, Absurdes und Tragisches gehen nebeneinander her, so wie es im Aufblitzen eines Augenblicks zum Erscheinen gekommen ist.
Schriftsteller und bildende Künstler haben sich seit jeher auf Reisen begeben, sei es in nähere oder ferne Welten oder auch in die Tiefen ihres Inneren und dabei den Ansturm von Gedanken, Eindrücken und Erfahrungen schriftlich oder visuell festgehalten – auch Urs Graf ist einer von ihnen. In seinem Atelier auf dem Hügel von Ermatingen stapeln sich die Studienbücher, von ihm einfach „Bücher“ genannt, in Dutzenden, vom kleinen zum mittleren zum grossen Format. Schwarz und rot eingebunden, einer Farbe, die Grafs Malerei und Zeichnung zyklisch durchzieht, erinnern sie, von der Beizahl von Fundstücken, Zetteln,Tickets, Papierservietten und Zeitungsausschnitten dick angeschwollen, weniger an Bücher als an still atmende Lebewesen – was sie für den Künstler gedanklich auch sind. Mögen die meisten Menschen ihre Lebenssituation in Alben festhalten, um sich ihres Werdegangs oder auch ihrer Erlebnisse zu vergewissern, so hat sich Urs Graf statt dessen entschieden, das, was ihn bewegt, in den Büchern zum Ausdruck zu bringen. Nicht um die Vergangenheit ad acta zu legen und endgültig abzuhaken, sondern um das Vorgängige mit dem Nachfolgenden zu verknüpfen und somit, sei es in eng oder weiter gezogenen Spiraldrehungen, die vergangenen Stationen seines Lebens – und seiner Kunst – von Neuem zu durchlaufen. Über Jahrzehnte hat sich so Buch um Buch angefüllt, an den verschiedenen Wohn- und Arbeitsstätten im Thurgau, während Aufenthalten in Berlin und Paris oder auf Reisen in die Ferne, etwa nach Indien oder Nordafrika.
Fast immer haben die Aufzeichnungen in diesen Büchern sich direkt oder indirekt auf die Malerei ausgewirkt; diese nimmt in seinem Schaffen eine ebenso wichtige, wenn nicht sogar gewichtigere Stelle ein. Am stärksten hätten ihn jedoch, sagt Urs Graf, die New York-Zyklen angeregt. Es waren ihm in dieser Stadt die eindrücklich verkürzten „Tags“ und Piktogramme der Graffiti ins Auge gestochen –, vor allem aber das Phänomen ihres fortlaufenden Verschwindens oder Sich Veränderns unter neu Hinzugekommenem, das sich ihm als unübersehbares Zeichen der Vergänglichkeit ins Gedächtnis eingekerbt hat. Schicht um Schicht kommt dieses Moment in der Malerei zum Ausdruck, im steten Durchmischen, Überzeichnen, Überlagern und Verzahnen von Form- und Farbelementen. Linienbündel und Farbflächen, abbildende und abstrahierte Formen prallen in einem ständigen Wechsel aufeinander, durch eine expressiv ausholende Pinselschrift zusätzlich gesteigert. So kommt im Bild „Mickey Mouse und Selbstbildnis“ von 1999 (Abb. im Text) die realistisch wiedergegebene Comic-Figur auf eine über die grüne Stoffbahn geschichtete abstrakte Farbfläche zu stehen, während das Selbstbildnis des Künstlers auf der Seite gegenüber, in der Verinnerlichung bis in die Ungegenständlichkeit vorangetrieben, zwei rote Farbflecken und den leeren weissen Bildgrund durchschneidet. Ebenso wie von den Graffiti ist der Künstler von Fundstücken fasziniert, von Dingen und Materialien, in deren Alters- und Gebrauchsspuren sich die vergangene Zeit ablagert. Immer wieder greift er auf diese zurück, sei es, dass er sie als reales Zeugnis einfügt oder künstlerisch umwandelt. „Time Square“ vom Jahr 2000 (Abb.) geht gleich von zwei solcher Fundstücke aus: einem angerissenen Klebeband und einer vom Künstler auf der Strasse gefundenen Porträtfotografie einer schwarzen Frau. Beide Fundstücke sind so mit weiteren Elementen verschränkt, dass sich, abgesehen von den kontrapunktisch gesetzten freien Flächen, ein dichtes Netz von formalen und farblichen Überschichtungen ergibt. Das Gelb und Schwarz des Klebebands auf der rechten Bildseite wird von der in Grau wiedergegebenen Form eines „Tags“ überlagert, das Porträt der Frau über ein blaues, an Fahnenstoff erinnerndes Streifenband geschichtet.
Zurück zu New York: warum gerade diese und nicht eine andere Stadt? Wäre nicht gerade einem Maler und Zeichner deshalb davon abzuraten, weil jeder, ob er sich mit Film oder Fotografie beschäftigt oder auch nur einen Nachrichtensender einschaltet, bereits fixe Vorstellungen in seinem Gedächtnis gespeichert hat? Ist es möglich, diese Stadt mit unvoreingenommenen Augen zu sehen und ihr ein Gesicht zu geben, das anders, weil eigenständiger, handschriftlicher ist als die gängigen Bilder aus Film und Fotografie? Zwar hat auch Urs Graf den Fotoapparat bei sich getragen – um damit die oben erwähnten Graffiti festzuhalten –, aber es ist nicht das Medium Fotografie, sondern die Zeichnung, die ihm dazu verhilft, sich ein Bild der Stadt zu verschaffen. Und dazu die willentliche Absicht, New York nicht als Kulisse zu sehen, sondern als Lebensraum wahrzunehmen.
Mag dies mit ein Grund sein, dass uns Urs Grafs Aufzeichnungen mehr faszinieren als die allseits bekannten Bilder, so hat die Faszination vor allem mit den Eigenschaften seiner 'Sprache' zu tun: der grundsätzlichen Beherrschung von Technik und Ausdruck, der Schärfe der Beobachtung und der Methode, Unwesentliches wegzulassen. Über die letztere hat sich der Künstler immer wieder Gedanken gemacht und sich bewusst für das Fragmentarische, nur Angedeutete entschieden. Dadurch entstehen Freiräume, die wir mit eigenen Gedanken füllen können und die uns zugleich ermöglichen – im Ansatz einer Linie, im Endpunkt eines Farbtupfers –, am Entstehungs- und Entwicklungsprozess teil zu nehmen.
Im Unterschied zu den meisten anderen Büchern, sind die aus New York vielschichtiger und uneinheitlicher, nicht nur, weil sie zeitlich auseinander liegen. Zeichnungen mit Feder, Filzstift, Kugelschreiber und Bleistift wechseln mit übermalten Zeitungsausschnitten, Collagen, Aquarellen und Gouachen ab, als sei der Ansturm von Eindrücken am ehesten mit wechselnden Techniken und Darstellungsformen zu bewältigen. Zu den Zeichnungen, die unterwegs vor Ort entstehen und zuweilen im Hotel weiterentwickelt werden, kommen Aufzeichnungen aus der Erinnerung hinzu oder auch Darstellungen, die aus dem Innenleben schöpfen, muss doch, was an Eindrücken aus der Aussenwelt aufgesogen wird, auch innerlich verarbeitet werden.
Für seine Stadtgänge nimmt sich Urs Graf teilweise eine Route vor, lässt sich aber auch einfach vom Zufall leiten. Unablässig beobachtend und zeichnend durchquert er Stadtteil um Stadtteil, betritt Geschäfte und Cafeterias, verweilt in Museen. Von ihrer Form- und Farbsprache fasziniert, zeichnet er Plastiken von Max Ernst ab, „Les Demoiselles d'Avignon“ von Picasso, das Porträt einer Kokotte von Ludwig Kirchner oder auch ein Medaillon von Odilon Redon, auch hier auf den Spuren nicht von Gemeinsamkeiten, sondern des Vielstimmigen. Und indem er sich gleichermassen wie für die Kunstwerke für deren Betrachter interessiert, kann ihm nicht entgehen, dass sich vor einem suprematistischen Quadratbild von Kasimir Malewitch just eine Dame mit ebenso quadratförmig gemustertem Pullover befindet.
Er ist Jäger und Sammler zugleich. Er sammelt, was ihm unterwegs an Weggeworfenem in die Hände fällt oder in Form von Prospekten, Zeitungen und Zeitschriften angeschwemmt wird. Darunter die Reproduktionen eines prallen Pin up Girls, einer gelenkigen Turnerin oder eines Modells von Richard Mapplethorpe. Hier ist es einmal mehr die Haltung, die Urs Graf wegen der auffallenden Richtungswechsel fasziniert – er zeichnet die vorherrschenden Bildachsen mit violettem Stift nach.
Ist Urs Graf unterwegs, geht er den 'schönen' Ecken der Stadt möglichst aus dem Weg. Es ist das Gewöhnliche, auch das Hässliche, das ihn zum Zeichnen antreibt. Dann hakt sich der Stift unversehens an einer Fassade mit Reklametafeln fest, deren Grösse in absurdem Verhältnis zu jener der Häuser und der Passanten steht. Ohnehin sind es immer wieder die Menschen, die Urs Graf zur Darstellung bringt – und ihnen somit eine 'visuelle Stimme' verleiht. Manchmal werden Figur oder Antlitz nur in Umrisslinien gezeichnet, das Typische einer Haltung, ein aufgestützter Arm, ein vorgebeugter Körper, das Merkmal eines Profils mit wenigen Strichen eingefangen. Meist aber gibt er einzelnen Personen plastische Kontur, als wolle er sie aus dem anonymen Strom vorbeiziehender Körper und Gesichter für immer als Individuum heraus heben. Dann scheint die Zeit plötzlich stillzustehen, wie etwa im Porträt des auf einer Bank eingenickten Mannes. Der Bleistift umrundet die Massigkeit von Körper und Kopf, hebt mit schattierendem Strich den Brustbereich hervor, steigt zum Gesicht hinauf, um im Wechsel von Licht- und Schattenpartien auf dem selbstvergessenen Ausdruck des sich dem Schlaf Hingebenden zu verweilen.
Nur mit Stiften unterwegs, um jede Aufmerksamkeit zu vermeiden, arbeitet Urs Graf nicht selten im Hotel an den Zeichnungen weiter, vorwiegend dann, wenn ihm in der Stadt eine Farbe oder ein Farbklang besonders auffiel. Festgehalten werden nicht nur die lauten Töne – etwa das schreiende Gelb und Pink einer Neonschrift, der Kontrast eines grünen Rucksacks zum Violett eines Mantels –, sondern auch die sozusagen müden, matten, verwaschenen und ausgebleichten Farben. Auf Stadtwanderung unterwegs merkt sich der Künstler die Farbskala, indem er sie kurz schriftlich in die Zeichnung einträgt. Vor allem aber verlässt er sich auf sein visuelles Gedächtnis oder nimmt sich zuweilen auch künstlerische Freiheiten heraus, um die Empfindung, die eine bestimmte Atmosphäre in ihm ausgelöst hat, in ihrer ganzen Tiefe zum Ausdruck zu bringen. Manchmal entlädt sich eine Stimmung in einem kurzen Augenblick, etwa wenn die Farben einer Fassade – ein Rot, Violett, ein Blassrosa – mit den Kleidungsstücken vorübergehender Passanten korrespondieren. Oder eine Stimmung ist fest mit einem Ort verhängt, wie etwa in den Vierteln, in deren überschmierten oder versprayten Häuserfassaden die ganze Tristesse einer unaufhaltsam fortschreitenden Verwahrlosung zu widerhallen scheint.
Wenn sich Urs Graf vor allem in den Vierteln der Unterschicht und der Ausgegrenzten bewegt, im East Village, in Chinatown oder an der Bowery, so weil er sich von der unbekannten, der unglamourösen Seite der Stadt angezogen fühlt. Keine Spur von den Hochglanzbildern der Werbeprospekte, nicht ein Hauch deren Eleganz. Stattdessen Haltungen und Physiognomien, die davon künden, dass das Hoffen, am „American Way of Life“ teilhaben zu dürfen, hier vergebens ist. Irgendwo hier muss sich auch zugetragen haben, dass Urs Graf als Wechselgeld jene Dollarnote heraus bekommen hat, auf der “all womEn arE ParasitEs of men“ geschrieben steht. (Nichts wäre näherliegend als gerade einen Geldschein mit diesem zornigen Statement zu versehen). Und in einem dieser Viertel, auch im sinnbildlichen Wortsinn von „Underground“ zu verstehen, ist Urs Graf auf jene Clubs gestossen, in denen sich der Eros sozusagen unter 'freiem Willen' entladen darf: Urs Graf hat diese Erfahrungen in einigen wenigen Zeichnungen, vor allem aber einer Reihe von Gouachen festgehalten. Mit Eros, Gewalt, Krankheit und Tod hat sich der Künstler seit jeher auseinandergesetzt, als Ausdruck existentieller Erfahrungen, die aus einem 'gelebten' Leben nicht auszuklammern sind. So sind denn die Darstellungen auch im New York-Buch weniger auf die Ängste, Sehnsüchte und Begierden des Einzelnen bezogen, als im abstrahierenden Ausdruck und den entindividualisierten Figuren ein Spiegel des Lebens an sich.
Man hätte Urs Grafs New York-Zyklus im hier vorliegenden Katalog statt entlang der zeitlichen Entstehung, thematisch untergliedern können und so dem Betrachter möglicherweise den Zugang erleichtert. Aber genau in dieser ungeordneten Vielstimmigkeit der Aufzeichnungen, dem sprunghaften Wechsel vom Einen zum Andern, liegt auch eine seiner wesentlichen Qualitäten. Die Aufenthalte von Urs Graf in New York waren zwar keineswegs eine Flucht, doch zumindest ein Ausscheren aus dem gewohnten Alltag. Sie haben den Künstler nicht zu einem anderen Menschen gemacht, aber sie haben sein Bewusstsein für das Aussen und Innen geschärft. Und weil er sich vorbehaltlos den Erlebnissen und Erfahrungen überlassen hat, hat sich ihm aufgetan, was Nicolas Bouvier im Buch „Die Erfahrung der Welt“ dem eigentlichen Reisebericht als möglichen Gewinn vorangestellt hat: „Man glaubt, dass man eine Reise machen wird, doch bald stellt sich heraus, dass die Reise einen macht“.
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Kathrin Zellweger ©
Text zu Urs Graf: Facetten 13 2011
Eine Annäherung in drei Variablen
Das Konvolut
Urs Graf wendet sich zum Gehen. Die Kioskfrau, bei der er eben die DIE ZEIT gekauft hat, ruft ihm nach: Vergessen Sie die Zeit nicht! DIE ZEIT, die man unter den Arm klemmt? oder die Zeit, die verrinnt – unaufhaltsam, erbarmungslos, unwiderruflich?
Die unbeabsichtigte Doppeldeutigkeit dieses freundlichen Hinweises trifft bei Urs Graf einen Nerv.
Zu Hause zeichnet er mit raschem, sicherem Strich ein Gesicht – vielleicht seins – ins Tagebuch, schreibt die doppelsinnige Aufforderung daneben, setzt in die obere Ecke das Datum, 23.03.2011, legt die Seite um. Im schwarzen Buch hält er fest, was ihn gefreut oder geärgert hat. Mal sind es Skizzen, mal sind es Notate zusammen mit einer Zeichnung, mal sind es Collagen. Dringliches steht neben Zufälligem. Unzensuriert. Die einzige Ordnung ist die Chronologie. „Meine Handschrift in diesen Skizzenbüchern ist grob und roh. Ich bemühe mich nicht um einen ästhetischen Effekt.“ Vielleicht in einer Woche, vielleicht in einem Jahr taucht dieser ambigue Satz über die Zeit in einem Werk wieder auf. Verändert, collagenartig montiert, ergänzt, uminterpretiert. Modul des Lebens, mannigfaltig verwendbar als Modul eines Kunstwerkes.
Das Konvolut an Zeichnungen, Malerei und Collagen, die fertigen Werke und jene, die er überarbeiten oder abschliessen will, ist schier unüberschaubar. Schaut er frühere Arbeiten an, wundert er sich bisweilen über seinen damaligen etwas akademischen Duktus. Urs Graf freut sich über diese Menge, die er seinen Nachkommen hinterlassen wird, hat aber gleichzeitg ein schlechtes Gewissen, dass sie alles ordnen und bearbeiten müssen.
Vergessen Sie die Zeit nicht! Urs Graf ist 69 Jahre alt. So unbekümmert wie noch vor wenigen Jahren lebt er nicht mehr. „Aber ich bin wieder da.“ Auch das eine mehrdeutige Bemerkung. „Ich bin milder und weicher, vielleicht gar versöhnlicher geworden.“ Sein Hang zur Ironie aber, die beissend sein kann, ist ihm geblieben. An der Wand im grossen Wohnraum hängen zwei Bilder dicht beieinander. Die Micky Maus auf dem einem zeigt auf Grafs Selbstporträt auf dem andern. Wer zieht hier wen ins Lächerliche? Selbstbildnisse bilden eine Konstante in Grafs Werk, als müsste er sich seiner immer wieder vergewissern. „Man ist sich selbst das geduldigste Sujet und der wichtigste Mensch.“
Ein Teil des Werkes an der Aussenfassade an der Immenstallstrasse 5 in Ermatingen geht ebenfalls auf ein Selbstporträt zurück. Grafs scharfe Nase und die prägnante Augenpartie lassen sich wegen der starken Rasterung nicht mehr erkennen. Umso augenfälliger ist die dicke schwarze Linie, die aussieht wie eine bizarre Fieberkurve.
Beides muss wohl überlegt sein, so wie es einen Grund haben wird, dass sich die Haustüre nach aussen öffnet. Wer zu nahe steht, wird einen Schritt zurückweichen müssen. Urs Graf tritt dem Gast über die Schwelle entgegen, nicht umgekehrt. „Wie nahe ich einen Menschen an mich heranlasse, will ich definieren.“
Urs Graf gibt seinen Bildern selten Titel. Er spielt dem Betrachter, der Betrachterin den Ball zu: Denke nach, schau selbst, wie du das Bild in deinem Kopf fertig stellen, was du sehen willst. Das gilt weniger für die Zeichnungen, umso mehr jedoch für jene Werke, die vielleicht dem abstrakten Expressionismus zugeordnet werden könnten. Auch im Gespräch entzieht er sich immer wieder. Fragen beantwortet er gern mit Gegenfragen. Manchmal entwickelt sich daraus ein lustvoll-intelligenter, verbaler Schlagabtausch. Bisweilen aber ist eine Antwort so absolut und brüsk, dass jeder weitere Satz überflüssig wird. Auch Menschen, die ihn gut kennen, haben für seine sporadische Schroffheit keine Erklärung. „Wäre ich ein Tier, ich wäre ein schwarzer Panther.“
Der Lebensraum
Im Garten, wo das erste Schneeglöcklein blühte, steckte Urs Graf eine kleine Schweizer Fahne in die Erde. Hier auf der Wiese eine launige Geste, kein Aufwallung heimatlicher Gefühle. In seinen Skizzen jedoch sind Heimat und Schweiz politisch aufgeladen. Neben kodierten Aussagen finden sich andere, in denen Grafs Wut, Enttäuschung und Kompromisslosigkeit nicht zu übersehen sind. Dieser Ingrimm ist erneut zu spüren, wenn er über den Anlass zu diesen Skizzen redet. Was er in Worten nicht sagen kann oder will, ver-bildlicht er mit präzisem Strich.
Ein papierenes Fähnchen, wahrscheinlich gefunden in einer seiner vielen Schachteln oder Schubladen, die bis an den Rand gefüllt sind mit Fundstücken: vom Kinobillet über die Papierserviette, vom farbigen Plastik bis zum Fetzchen Stoff, vom abgerissenen Teil einer Verpackung bis zum verbogenen Draht. Fundstücke werden später zu Werk-Teilen, Abfall wird zu Brauchbarem, Absichtsloses wird zu Gewolltem.
Die Wiese vor dem Haus, Ermatingen, der Thurgau und die Ostschweiz sind für Urs Graf mehr als geografische Orte. Alle vier sind von existenzieller Bedeutung. Das hat auch mit Evelyn Ammann zu tun, mit der er vor über 60 Jahren in den Kindergarten gegangen ist und mit der er heute zusammenlebt. „Ohne sie wäre ich in den letzten Jahren nicht zurechtgekommen.“
In den Achtzigerjahren war Urs Graf für Studienaufenthalte mehrere Monate in New York, Paris und Berlin. Er unternahm immer wieder ausgedehnte Reisen, unter anderem nach Indien und Nordafrika. Dem Thurgau wollte er nie endgültig den Rücken kehren; das stand immer fest. Ein anderer Entscheid hingegen musste erst heranreifen. Damals in New York saugte er auf, was ihm die Kunstszene der
Metropole zu bieten hatte, er besuchte Galerien und Künstlerateliers. Und gleichwohl – oder deswegen? – gelangte er zur Gewissheit, dass er nicht ausschliesslich Künstler sein, sondern weiterhin auch als Kunstvermittler arbeiten wollte. Schon seit 1971 war er Zeichenlehrer an den Kantonsschulen Kreuzlingen und Romanshorn, wechselte später ans Lehrerseminar in Kreuzlingen, wo er bis 2005 blieb.
Dieser Entscheid war in erster Linie eine Absage an den kommerzialisierten Kunstbetrieb, der ihn in seinen Augen zur Marionette gemacht hätte. Sich bei jenen anbiedern, die das Sagen haben. „Prostitution.“ Seine Werke und sein Kunstverständnis aus der Hand gegeben. „Niemals.“ Sich einer Galerie anvertrauen, die zuvor entschieden hatte: Dieser Künstler ist im Kommen, den wollen wir anbinden. „Unvorstellbar. Ich habe nie jemanden gefragt, ob ich etwas darf. Ich habe mich nie und nirgends beworben.“ Sein erhobener Zeigfinger wirkt beschwörend. Stolz und trotzig ist er, lieber allein als ausgeliefert, vereinnahmt und abhängig.
Zugegeben, er hätte vielleicht grössere Resonanz gefunden, hätte Inspiration und Motivation erfahren. „Natürlich freue ich mich, wenn ich beachtet werde; aber ich lebe vor allem von meiner eigenen Freude und von meiner Freiheit.“ Er überlegt, nimmt den Faden wieder auf: „Ich denke, meine Arbeiten müssen den Vergleich mit Werken anderer nicht scheuen. Nicht alles, was die Massen bewegt, und sich gut verkauft …“ Er hebt die Schultern; was will er noch deutlicher werden.
Sein Refugium ist seit zwei Jahren sein neues Haus. Hier kann er sich konzentrieren, besser als an den angesagten Kunst-Orten mit ihrer kompromisslosen Brutalität. „Auch im Thurgau kann ich informiert sein über den Kunstbetrieb. Es gehört zur Professionalität eines Künstlers, dass er ortsunabhängig aufnimmt, was in der Szene von Bedeutung ist.“ In Künstlerkreisen verkehrt er daher kaum, „auch wenn ein Austausch fruchtbar sein könnte“.
Das Gegenstück
Am alten Gartenhäuschen, das beim Abbruch des Elternhauses stehen bleiben durfte, hängt eine hölzerne Larve. Der Eselskopf aus dem Lötschental schaut direkt in Urs Grafs Atelier. Sein Alter Ego? „Ja“, sagt er und überrascht sich selbst mit der Antwort. Der Volksmund sagt: Disteln sind dem Esel lieber als Rosen.
In den Biografien über Urs Graf ist stets erwähnt, dass er der Sohn des bekannten Malers Ernst Graf ist. Dieser Hinweis, der im Kern ein Vergleich und eine Wertung ist, hat ihn zuzeiten geärgert. „Ich löste mich früh aus dem Schatten meines Vaters. Seine und meine Art zu zeichnen sind oft kaum zu unterscheiden. Wir haben ähnliche formale Vorstellungen und ästhetische Ansprüche.“ Der Sohn spürte und wusste aber dennoch, dass er künstlerisch an einem andern Ort stand. Es wäre ihm epigonenhaft und verlogen vorgekommen, wenn er wie sein Vater Aquarelle gemalt hätte. „Alle
Kunst ist autobiografisch. Sie widerspiegelt die persönliche Haltung der Kunst und der Welt gegenüber. Gestalten heisst, Erlebnisse in eine bildnerische Form bringen. Sich selbst bleiben und sich entwickeln kann zum Widerspruch werden.“
Nach dem Lehrerseminar erwarb Urs Graf an der ETH Zürich das Turn- und Sportlehrerpatent. Dort hat er seine Frau kennengelernt, mit der er eine Tochter und einen Sohn hat. Als Sport- und Skilehrer finanzierte er sich das Studium der Kunstgeschichte und der Archäologie. Die wissenschaftliche Auseinandersetzung an der Uni war ihm mit der Zeit zu theoretisch. Er wechselte an die Kunstgewerbeschule Zürich, in der Schweiz damals die einzige Möglichkeit für eine Künstlerausbildung.
Es zeigte sich, dass der bewusst gewählte Doppelberuf Künstler und Kunstvermittler mehr und mehr eine Belastung wurde. „Ich hatte wenig Zeit für die Familie; allen voran meinen Kindern hätte ich vielleicht mehr mitgeben können.“ Viele seiner ehemaligen Schülerinnen und Schüler geraten noch heute ins Schwärmen, wenn sie über den Zeichenlehrer Graf reden; sie sind ihm dankbar, dass er sie an die Kunst heranführte. Auch Lehrerkollegen geben neidlos zu, dass er ein ausserordentlich begabter Pädagoge war, der auch ihnen Kulturwissen und -verständnis vermittelte, der dem Lehrerseminar als Institution eine wichtige kulturelle Dimension geben konnte.
Graf verstand sich als Kulturvermittler in einem weiten Sinn; vor allem wollte er Motivator sein. „Mein Fokus lag immer auf den kreativen Kräften, an die ich bei allen Schülern glaubte und die ich entwickeln wollte.“ Er war kein Zeichenlehrer, der Techniken lehrte; für ihn waren Form und Inhalt gleich wichtig. Der künstlerische Ausdruck hat für ihn mit Wahrheit, Ehrlichkeit und Redlichkeit zu tun. Erziehung und Bildung würden von der Haltung der Lehrperson abhängen. „Ein Lehrer muss an das glauben, was er vermittelt, sonst passiert im Schüler nichts.“ Wieder hebt er den Zeigfinger: „Dazu braucht es keine hochgestochene Didaktik.“ Genüsslich, mit einem Seitenhieb gegen die heutige Akademisierung des Lehrerberufes, zitiert er einen ehemaligen Kollegen: … und ist es auch ein Unsinn, so hat es doch Methode.
Trotz einiger Jahre fern der Schule schlüpft er immer noch gern in die Rolles des Pädagogen, und sei es nur, um unangenehmen Fragen auszuweichen. Er bittet in sein Atelier, hält einem Handschuhe hin und fordert einen auf, aus der Serie V-60 Kombinationen zusammenzustellen. „Ich hinterfrage bloss, was mir ein Problem ist. Dazu habe ich meine Strategien, gute und ekelhafte.“
Facetten Seite 5
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URS GRAF Zwei Wände - Viele Bilder
Vom 8. September bis zum 15. Oktober 2000 zeigt der kunstraum Kreuzlingen Bilder und Zeichnungen des Thurgauer Künstlers Urs Graf . Weit davon entfernt Retrospektive zu sein, knüpft die Ausstellung dabei gleichwohl an Arbeiten der vergangenen Jahre an, werden bekannte Motive aufgegriffen und weitergeführt. Auf den beiden grossen Wänden der Ausstellungshalle stellt Urs Graf mit Malerei und Zeichnung zwei gleichwertige Bereiche seiner Arbeit einander gegenüber. Entsprechend zeigt diese Gegenüberstellung keine Aufschlüsselung klassischer Malereigenesen auf. Vielmehr präsentiert sie Urs Graf als malenden Zeichner, der in der Skizze nicht nur vorbereitet oder variiert, sondern festhält und spätere Gestaltungen oft bereits fixiert.
Die südliche Wand des Kunstraums wird Urs Graf mit vier nahtlos übereinandergefügten Bilderreihen über eine Höhe von vier Metern fast vollständig überdecken. Diese Bilderreihen bestehen - wenn auch übersteigert, so doch dem lange im Kunstmuseum des Kantons Thurgau in Ittingen gezeigten “Varia variabel” verwandt - aus verschieden breiten Bildelementen, die hier jedoch nicht vom Besucher, sondern von Urs Graf selbst geordnet werden. Lesbar sind diese einzelnen Friese zwar durchaus als Reihen, in ihrer Kombination lösen sie sich jedoch schnell zugunsten einer die ganze Wand immer wieder neu durchforschenden Lesart auf. Zeichenhafte Motive, knallige Farben und beinahe zur blossen Struktur verfremdete Bildinhalte knüpfen an die aufgeheiterte Arbeiten der letzten Jahre an, die seit Mitte der 90er Jahre die früher zumeist düsteren, oft brutalen Bilder Urs Grafs ablösten
Thematisch vielfältiger und in ihrer künstlerischen Bearbeitung oft noch spielerischer als die Malerei präsentieren sich die kleinformatigen Materialien der Nordwand: Zeichnungen, Fotos, Fundstücke, Zeitungsschnipsel, Ideenskizzen, Entwürfe, Vorlagen, Fragmente - im nur scheinbaren Durcheinander legt Urs Graf die Theman seiner Kunst offen dar. Zum einen fasst er sie zu Gruppen zusammen: Politik, Sexualität, Portrait, Reisen - zentral dabei seine zahllosen New Yorker Skizzen - und immer wieder Urs Graf selbst. Zum anderen platziert er sie nebeneinander in losen Assoziationsketten, die überraschende Verwandtschaften und Entwicklungslinien aufzeigen. Diese Wand ist neben ihrer Eigenständigkeit auch Schlüssel zu den gezeigten Malereien. Hier finden sich die oft akkurat in die Malerei übertragenen Inhalte und Motive. Hier allein ist eine Genese der Motive selbst nachvollziehbar. Und hier findet sich letztlich auch die eigentliche Welt des Urs Graf.
Diese Welt ist die eines modernen Lumpensammlers, nicht die eines suchenden Gegenwartsarchäologen. Urs Graf bedient sich der Zeichen und Motive wahrer Alltäglichkeit - sowohl der öffentlichen, als auch seiner ganz privaten. Er trägt sie zurück in die Welt der er sie entnimmt und stellt sie damit neu zur Verfügung. In ihrer zeichenhaften Einfachheit, oft auch in ihrer Vertrautheit, entstehen diese in den Skizzen und Materialien gezeigten Zeichen und Motive durch die Übertragung ins grosse Format der Malerei Urs Grafs wie neu.
Durch Farbe, Vergrösserung und Kombination ergeben sich überraschende, spannungsvolle Beziehungen. Dabei erhalten bereits im kleinsten Format fixierte Inhalte manchmal neue Bedeutungen, in jedem Fall aber neue Lesbarkeit. In einem Prozess des Gegenlesens der beiden Wände wird der Besucher immer wieder neue Verknüpfungen und Wege durch die gewaltige Fläche der Bilderwand finden, im Gegenzug freilich stets zu den Motivursprüngen zurückverwiesen. So fügt er pendelnd die Wände zueinander, als Wanderer im Mikrokosmos der Motive Urs Grafs.
Andreas Vogel, Zürich
Vernissage Freitag, 8.September 2000, 1900 Uhr, Einführung: Dr. Andreas Vogel, Kunsthistoriker, Zürich
Lesung Dienstag, 19.September 2000 mit Jochen Kelter
Brot und Wein Sonntag, 24.September 2000, 1100 Uhr, Elisabeth Grossmann im Gespräch mit Urs Graf |